Zen-Bogenschießen und Meditation
„Sobald der Pfeil abgeschossen wurde, kann der Schütze nichts mehr tun und nur noch dessen Flug zum Ziel verfolgen.“ Dieser Satz von Paulo Coelho hat mich gestern beschäftigt, als ich einen Tagesworkshop zu Meditation und Zen-Bogenschießen besuchte.
Es ist kurz vor zehn am Samstag Vormittag. Im großen Pfarrsaal der Heilig Kreuz Kirche auf dem Hügel über der Frankfurter Eissporthalle werden Bögen gespannt, Pfeile in Köcher gelegt, die Zielscheibe aufgestellt und ein grüner Vorhang zum Auffangen der verirrten Pfeile aufgespannt. Bogenmeister Dr. Alexander Ullrich wiederholt für die 12 Teilnehmer noch einmal die verschiedenen Schritte beim Zen-Bogenschießen: den richtigen Stand, die Ausrichtung des Körpers auf das Ziel, das Einlegen des Pfeils, die Zentrierung auf die Körpermitte, dann der Blickkontakt zum Ziel. All das geschieht langsam und in Ruhe. Dann hebt er den Bogen und spannt ihn mit einem Auseinanderziehen der beiden Arme. Der Daumen hakt kurz hinter dem Winkel des Unterkiefers ein, bevor die Finger die Sehne loslassen und der Pfeil losfliegt. Ein sattes „Plock“-Geräusch zeigt, dass der Pfeil die Zeilscheibe getroffen hat. Es sieht elegant und mühelos aus.
Die Angst, das Ziel zu verfehlen
Nun probieren die Teilnehmer. Sie legen Armschützer an den Bogen-Arm, suchen nach einem Bogen mit passender Spannung, und üben die einzelnen Schritte. Ich habe es zuvor schon ein paarmal Zen-Bogenschießen probiert, aber die Übungstage lagen Monate auseinander, so dass ich mich erst wieder erinnern muss. Nachdem die ersten beiden Schüsse die Scheibe treffen, probiere ich zum ersten Mal die Atmung aus. Die hatte ich bisher nicht bewusst beachtet, weil es schon so viel anderes zu bedenken gab. Heute aber mache ich eine wundervolle Entdeckung: Wenn ich den Bogen mit dem Einatmen spanne und mit dem Ausatmen die Sehne loslasse, schwindet die Angst, das Ziel zu verfehlen. Es ist ein bisschen so, wie wenn man im Schwimmbad auf dem Sprungturm steht und nicht hinunterschaut, sondern gleich springt.
Nach ein paar Mal merke ich, dass der Atem mich trägt. Ich reite auf ihm wie auf einer Welle. Es entsteht das Gefühl, in einem befreienden Fluss zu sein. Ich lasse den Pfeil los und freue mich daran, wie er fliegt. Es ist so eine Leichtigkeit darin. Der Schuss will gut vorbereitet sein. Aber mir dämmert, dass es beim Zen-Bogenschießen nicht darauf ankommt, angestrengt zu zielen. Oder mir besondere Mühe zu geben, die Schritte korrekt auszuführen. Das Fundament ist vielmehr die Präsenz in jedem einzelnen Schritt.
Jenseits des Denkens
Ich habe in anderen Übungsstunden damit gehadert, das Ziel zu verfehlen. Und Bogenmeister Alexander Ullrich sagte mir: „Es kommt nicht darauf an, wo der Pfeil auftrifft.“ Das mag so sein für eine Übungsstunde im Zen-Bogenschießen. Aber wie ist es im Leben? Denn um nichts weniger als das Leben geht im Zen. „Die Zen-Meister haben bekannte Tätigkeiten aus dem Alltag genommen, die die Menschen durch viele Wiederholungen beherrschten – und daraus eine Meditation gemacht“, erklärt Ullrich. Im achtsamen, bewussten Ausführen sollen sich Erfahrungen jenseits des Denken öffnen.
Wie beim stillen Sitzen Gedanken aus dem Unbewussten aufsteigen, zeigt auch das Bogenschießen, um welche Themen es in meinem Leben gerade geht. Aber es gibt auch lange Zeiten, in denen ich eintauche in die große, erfrischende Stille. Zeiten, in denen ich nichts denke und nichts wünsche, nichts befürchte, plane oder erwarte.
Sitzen und Schweigen
Anders als beim Kyudo wechselt das Bogenschießen in der Heilig Kreuz Kirche, dem Meditationszentrum des Bistums Limburg, mit Zeiten der stillen Meditation in der wunderschönen Krypta. Beim stillen Sitzen bemerke ich es nicht so schnell, wenn ich mit den Gedanken abschweife, wie wenn ich beim Bogenschießen unaufmerksam bin. Trotzdem liebe ich das Sitzen und Schweigen, weil es durch die Präsenz der anderen Teilnehmer vertärkt wird. Es ist wie das Eintauchen in einen tiefen Brunnen. In der Austauschrunde am Ende des Tages sagen einige, die Zeit sei wie im Fluge vergangen und sie hätten es sehr genossen, diese Stunden für sich zu haben und sich von der Gruppe getragen zu fühlen.
An diesem Tag komme ich abends nach Hause und beschließe, den Fernseher aus zu lassen. Das Wasser in meinem Brunnen ist still. Ich will es nicht durch neue Eindrücke und Gedanken aufwühlen. Mir dämmert, dass diese Stille eine unermessliche Quelle der Kraft sein kann. Und ich glaube, ich kann durch den Atem mit ihr in Kontakt kommen. Jederzeit. Und immer wieder zwischendurch im Alltag, wenn sich die Wasseroberfläche kräuselt.
Übrigens: Einen Einblick in die Kunst des Bogenschießens als Weg findet sich in Paulo Coelhos Buch: „Der Weg des Bogens“. Diogenes Verlag 2017.
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