Wie wird man kräuterkundig?

Ethnobotaniker haben in Völkern, die naturverbunden leben, Hinweise für eine besondere Kommunikation zwischen Pflanzen und Menschen gefunden. Auch moderne Kräuterkundige sollten ihre Sinne schärfen.

Wenn Hunde sich den Magen verdorben haben, wissen sie genau, welche Kräuter sie fressen müssen, um zu erbrechen. Ebenso bekämpfen die Orang Utangs auf Borneo Kopfschmerzen mit den Blüten einer bestimmten Pflanze. Und Berggorillas in Uganda fressen die Rinde des Dombeya-Baums, der eine Keim abtötende Wirkung auf das Darmbakterium E. Coli und andere Krankheitserreger hat. Wie haben sie das herausgefunden?

Die Erklärung, Tiere und unsere menschlichen Vorfahren hätten die Wirkung von Heilpflanzen über lange Zeit durch Versuch und Irrtum entdeckt, greift zu kurz. Das zeigt das Beispiel der Insel Madagaskar, die vor mehr als 100 Millionen Jahren vom afrikanischen Kontinent abgespalten wurde. Seitdem hat sich die reichhaltige Pflanzenwelt auf dieser Insel unabhängig von derjenigen auf dem Mutterkontinent entwickelt. 90 Prozent der madagassischen Pflanzen kommen sonst nirgendwo auf der Welt vor.

Exotische Pflanzenwelt Madagaskars

Als die Insel etwa 2000 vor Christus von Menschen aus Afrika und Asien zuerst besiedelt wurde, war den Einwanderern demnach die Mehrzahl der Pflanzen unbekannt. Dennoch hat es keine hundert Generationen gedauert, bis die einheimischen Heiler unter den 12.000 exotischen Blütenpflanzen diejenigen mit einer Heilwirkung gefunden haben. Ethnobotaniker wie die Amerikanerin Kathleen Harrison oder der Deutsch-Amerikaner Wolf-Dieter Storl, die seit 30 Jahren die Welt bereisen, um mit Heilern zu sprechen, kommen zu dem Schluss: Sie erfahren es aus dem Gespräch mit den Pflanzen bzw. die Pflanzen teilen sich demjenigen mit, der auf sie zu hören weiß.

Als ich diese Idee zum ersten Mal von einem Jahr in dem Buch „Kräuterkunde“ von Wolf-Dieter Storl las, fand ich sie ein wenig esoterisch. Aber vor Kurzem stieß ich auf einen ähnlichen Bericht in dem Buch des amerikanischen Arztes Larry Dossey (Titel: The extraordinary healing power of ordinary things). Er berichtet darin, wie Kathleen Harrison im Gebiet des oberen Amazonas, nahe Iquitos (Peru) mit Nachfahren der Indianer und der eingewanderten Spanier arbeitete. Um die Wirkung einer Pflanze zu testen, zerrieben sie etwas von ihren Blättern und verteilten dies auf dem Gesicht und der Stirn. Dann legten sie sich in die Hängematte oder setzten sich still und mit geschlossenen Augen in den Wald und lauschten aufmerksam und mit allen Sinnen auf was auch immer passieren würde.

„Ich würde gern jede Nacht so träumen“

Harrison fühlte sich bei ihrer Ankunft von einer Pflanze besonders angezogen: der „Labios de Sirena“ (Sirenen-Lippen). Ihre Gastgeber hielten diese Pflanze für Harrisons Verbündete und schlugen vor, sie solle nachts etwas davon unter ihr Kissen legen. „Ich hatte erstaunliche Träume, wirklich die schönsten, durchweg positiven, langen und erinnerungswürdigsten Träume meines Lebens. Und ich träume viel… Ich würde gern jede Nacht so träumen“, berichtete sie (Dossey, S. 139 f.). Dieser Bericht, und die Tatsache, dass er von einem Arzt erwähnt wird, machte mich nachdenklich.

Tatsächlich bin ich gern draußen und seitdem ich mich mit der Heilwirkung von Kräutern beschäftige, bleibe ich bei Spaziergängen auch gern stehen, um Pflanzen anzuschauen, an Blüten zu riechen, die Vielfalt der Farben, Blatt- und Blütenformen zu bewundern. Ich merke schon immer, wann eine Pflanze durstig ist, einen neuen Topf braucht oder die Sonne nicht verträgt (auch wenn ich gar nicht für sie „verantwortlich“ bin). Und immer öfter denke ich auch daran, mich innerlich bei meinen Küchen- und Heilkräutern auf dem Balkon zu bedanken, wenn ich mir einige Blätter oder Zweige abpflücke. Wolf-Dieter Storl schreibt, die Indianer würden sich bei den Pflanzen mit einem Geschenk bedanken, z.B. ein wenig Tabak.

Storl empfiehlt auch Meditationen über Pflanzen. Ob man das jetzt machen möchte oder nicht – letztlich scheint mir die Haltung wichtig, mit einem offenen Herzen durch die Natur zu gehen, staunen zu können und dankbar zu sein für die Lebewesen, die uns umgeben und allein schon durch die Produktion von Sauerstoff am Leben erhalten.

Tips für eine intuitive Verbindung zu Pflanzen

Diese Tips von Storl sind inspiriert von den Medizinmännern – und Frauen, die er während seiner Arbeit als Ethnobotaniker kennengelernt hat:

  • Die Ojibwa-Indianer nennen als wichtigste Vorbedingung eine reine Seele zu haben. Dazu gehören ein gutes Gewissen, Aufrichtigkeit, Mitgefühl und Geistesgegenwart.
  • Jeden Tag zu den Pflanzen hinaus gehen, egal wo man wohnt und welches Wetter herrscht. Auch in der Stadt wachsen viele heilkräftige Pflanzen (besonders an Bahndämmen). Die botanischen Gärten haben oft Lehrbeete mit Heilpflanzen.
  • Die Pflanzen genau betrachten und mithilfe eines guten Bestimmungsbuches ihren lateinischen Namen und ihre Familienzugehörigkeit lernen. (Ich empfehle das Buch: „Was blüht denn da? Kosmos Naturführer)
  • Die Pflanze mit allen Sinnen erforschen: berühren, riechen, Blättchen behutsam kauen (Vorsicht: vorher genau bestimmen, damit man keine giftigen Pflanzen isst) und der Wirkung nachspüren.
  • Auf Erscheinungszusammenhänge achten: Welche Gedanken kamen mir spontan in den Sinn? Welches Tier hielt sich bei der Pflanze auf? (Storl erzählt dazu in seinem Buch „Kräuterkunde“ ein beeindruckendes Erlebnis mit einer Tollkirsche, S. 202 f.)
  • Um das Erlebnis der Begegnung mit der Pflanze zu intensivieren, vergegenwärtige man sich ihren Geist in einer abendlichen Meditation oder male sie aus dem Gedächtnis mit Wasserfarben „als porträtiere sie sich selbst“.
  • Märchen, Sagen und Legenden über Pflanzen lesen. Sie vermitteln bildhaft Erfahrungen der „inneren Welt“, das gesammelte Wissen eines Stammes oder Volkes mit dieser Pflanze.
  • Auf Träume achten. Storl schreibt, man müsse kein Indianer sein, um zu wissen, dass Pflanzen im Traum zu uns sprechen können. Man ist in guter Gesellschaft mit Karl dem Großen, Alexander dem Großen und dem Humanisten Melanchthon.

Allerdings sollte man nicht mit Pflanzen experimentieren, wenn man krank ist. Für den Hausgebrauch kann man bei Erkältungskrankheiten oder Magen-Darm-Verstimmungen selbst angebaute oder gesammelte Kräuter nehmen, die man gut kennt. In meiner Praxis verschreibe ich Kräuter aus der Apotheke – weil man sich da sicher sein kann, dass die wirksame Dosis erreicht wird und die Kräuter auf Schadstoffe geprüft sind (siehe Beitrag: Totes Insekt im Kamillentee).

Dieser Beitrag ist eine Einladung, mit wachen Sinnen und einem offenen Herzen durch die Natur zu gehen. Der Sommer ist dafür eine wunderbare Zeit.

Mehr zu Kat Harisson und ihrer Arbeit findet Ihr auf der Seite Botanical Dimensions.

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert