Was mir hilft bei Angst und Sorge
Vor schwierigen Gefühlen wie Angst wegzulaufen, ist keine Lösung. Mit der RAIN-Technik können wir sie aber auflösen. Ebenso wichtig ist es gerade in Krisenzeiten, den Geist mit Freude und Dankbarkeit zu nähren.
Auch wenn man gewöhnlich kein besonders ängstlicher Mensch ist, birgt die Corona-Krise Herausforderungen. Zwar scheint die Situation momentan zumindest in Deutschland unter Kontrolle zu sein, doch es bleibt die Angst vor einer Ansteckung und den wirtschaftlichen Folgen der Krise. Zu unseren Lebzeiten war die Zukunft noch nie so unsicher. Und das weltweit. Es ist eine gesunde Abwehrhaltung, sich die Tragweite der Ereignisse nicht täglich vor Augen zu halten. Aber von Zeit zu Zeit bricht sie in meinen derzeit beschränkten Wirkungskreis ein. Wenn mich eine Welle von Angst und Sorge überschwemmt, hilft mir die RAIN-Technik. Es ist eine Variante der CARE Methode, in der es vor allem um Selbstmitgefühl geht. RAIN finde ich aber noch besser für den Umgang mit schwierigen Gefühlen.
Mit R.A.I.N. gegen die Angst
Die RAIN-Technik stammt von der Psychiologin und Meditationslehrerin Dr. Tara Brach. Sie gründete 1998 ein Meditationszentrum in Washington DC, die „Insight Meditation Community“. Seit Beginn der Corona-Krise hält sie ihre Vorträge über einen Live-Stream auf Youtube. Man findet diese auf ihrer Webseite, zusammen mit anderen Meditationen, unter pandemic care ressources. Die RAIN-Meditation ist eine direkte und für mich sehr wirkungsvolle Art, mit Angst, Sorge oder Gefühlen der Ohnmacht und Isolation umzugehen. Hier die vier Schritte:
R für Recognize (Angst erkennen):
Angst hat den Sinn, uns vor Gefahr zu schützen. Sie entsteht im limbischen System und kann von dort aus blitzschnell Reaktionen auslösen, die unser Überleben sichern. Viele Ängste lassen sich aber heute nicht durch Angriff, Flucht oder Totstellen lösen. Damit die Angst nicht die Oberhand gewinnt, müssen wir das Großhirn einschalten. Wir benennen das unangenehme Gefühl: „Angst“, „Sorge“, „Ohnmacht“, „verlassen“, „einsam“, „traurig“ oder auch nur „unwohl“ oder „unangenehm“. Allein das Benennen gibt uns schon etwas mehr Kontrolle über das Gefühl.
A für Acknowledge (Angst akzeptieren):
Das ist der schwierigste Teil, denn wir wollen, dass unangenehme Gefühle möglichst schnell wieder verschwinden. Für diesen Schritt in der Meditation erlauben wir ihnen aber, da zu sein. Wir müssen sie nicht mögen. Es reicht, sich nicht dagegen zu wehren. Das nimmt ihnen auch einen Teil ihrer Macht über uns.
I für Investigate (Angst im Körper erforschen):
In diesem Schritt gehen wir vom Kopf in den Körper. Statt über die Angst nachzudenken, fühlen wir, wo sie sich im Körper bemerkbar macht: Eine Enge im Hals oder in der Brust, Spannung im Bauch. Dann legen wir behutsam und zärlich die Hände auf diese Stellen im Körper. Wie wenn wir ein krankes oder ängstliches Kind trösten wollten. Seit der Kindheit beruhigt sich unser Körper durch Berührung. Und die Forschung zeigt, dass es nur einen geringen Unterschied macht, ob es die eigenen oder fremde Hände sind.
Währenddessen fragen wir uns: Was braucht das verängstigte Kind in mir jetzt am meisten, um sich zu beruhigen? Ist es die Zusage: Ich bin bei Dir und lasse Dich nicht allein? Oder: Du bist mir wichtig und ich liebe Dich. Ich beschütze Dich. Wir schaffen das gemeinsam. Tara Brach empfiehlt: Frage den weisesten Teil in Dir. Oder auch Dein zukünftiges Selbst, das aus dieser Krise gestärkt hervorgegangen ist.
N für Nurture (Nähren):
Stelle Dir vor, dass ein liebendes Wesen Dich mit dem nährt, was Du jetzt brauchst. Es kann Dein zukünftiges, weises Selbst sein, ein naher Mensch, ein spiritueller Lehrer oder ein göttliches Wesen. Nimm Dir Zeit, diese nährende Zuwendung zu vergegenwärtigen bis die Angst nachlässt.
After the RAIN:
Nach der Übrung empiehlt Tara Brach, einen Moment nachzuspüren. Sie vergleicht den Tumult unserer Gefühle mit einer Welle auf dem Ozean. Wenn wir mitten im Gefühl sind, droht die Welle uns wegzuspülen. Aber nach dem Regen, wenn wir uns friedlich fühlen, können wir unsere Aufmerksamkeit auf den Ozean lenken. Sie lädt uns ein, uns als Teil von etwas Unvergänglichem zu fühlen, das durch die Stürme an der Wasseroberfläche nicht zerstört werden kann.
Auf der Webweite von Tara Brach gibt es ausführliche Informationen und geführte Meditationen zu RAIN. Es gibt sogar eine Anleitung, wie Du die RAIN-Meditation mit einem Partner machen kannst.
Den Geist mit Freude nähren
Über Ostern habe ich an einem Online-Retreat des European Institute of Applied Buddhism (eiab) teilgenommen. Zum Auftakt machte Schwester Song Nghiem in ihrem Vortrag darauf aufmerksam, dass wir äußerlich derzeit unter ähnlichen Bedingungen leben wie die Mönche und Nonnen. Auch im Kloster ist das enge Zusammenleben nicht reibungslos, aber es gibt bestimmte Regeln, die es erleichtern. Was mich dabei am meisten inspiriert hat, ist das Tagebuchschreiben unter folgenden Gesichtspunkten:
Abends vor dem Schlafengehen:
- Notiere mindestens drei Glücksmomente des Tages
- Frage Dich: Wann habe ich heute einem anderen Menschen etwas Gutes getan? Dazu zählen auch ein Lächeln oder ein freundliches Wort
- Was kann ich Morgen besser machen?
Ich habe gemerkt, dass es viel mehr Glücksmomente an einem Tag gibt, als ich anfangs dachte. Das schärft auch meine Wahrnehmung während des Tages. Zum Beispiel habe ich neulich notiert: Wasserreflexe, die sich auf den Blättern am Jacoby-Weiher spiegeln. Das war ein wunderbarer und lebendiger Moment, den ich schon fast wieder vergessen hatte. Wenn ich ihn mir kurz vor dem Schlafengehen in Erinnerung rufe, schlafe ich in besserer Stimmung ein. Und wache froher auf.
Durch die Frage 2 denke ich mehr darüber nach, was ich am nächsten Tag tun könnte, um anderen Menschen eine Freude zu machen und ihnen trotz Kontaktbeschränkungen meine Verbundenheit zu zeigen. Die dritte Frage schließlich lässt mich erkennen, woran ich arbeiten kann – ohne mich zu verurteilen, wenn etwas schief gelaufen ist.
Morgens: Dankbarkeit vertreibt Angst und Sorge
- Notiere drei Dinge, für die Du dankbar bist
- Was nimmst Du Dir vor, damit es ein schöner Tag wird?
Auch diese Übung hilft mir, trübe Stimmung und Angst am Morgen zu vertreiben. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf wenigstens drei Dinge, die in meinem Leben gut sind und mir geschenkt sind. Mir ist aufgefallen, dass ich viel zu viel als selbstverständlich angesehen habe.
Der Vorsatz für den Tag bezieht sich wiederrum auf kleine, aber sehr wirkungsvolle Gesten der Achtsamkeit. Zum Beispiel: Jede Stunde lächeln. Eine kleine Pause machen und atmen, bevor ich etwas sage. Meine Aufmerksamkeit immer wieder in den Körper zurückholen, besonders, wenn ich angespannt bin. Mir einige Momente des Nichtstuns erlauben. Einfach nur Löcher in die Luft starren. Müßiggang ohne schlechtes Gewissen genießen.
Seitdem ich diese Tagebucheinträge mache, bin ich viel ausgeglichener und glücklicher. Es gibt noch so viel, was wir aus der Krise lernen können!