Was ist integrative Kinderwunsch-Behandlung?
Die WHO hat 2014 ein „integratives Gesundheitssystem“ zum Leitmotto ihrer Gesundheitspolitik gemacht. Sie will die Stärken von westlicher Medizin und „alternativen Heilverfahren“ vereinen. Was das bei der Kinderwunsch-Behandlung bedeuten könnte, habe ich am vergangenen Wochenende aus erster Hand in der Fortbildung „Gynäkologie und integrative Kinderwunschbehandlung“ erfahren.
Im Seminarraum saßen etwa zur Hälfte Heilpraktikerinnen und zur Hälfte Ärztinnen und Ärzte: Gynäkologinnen, Allgemeinmediziner und eine Anästhesistin. Das Dozenten-Team für die zertifizierte Ausbildung, die über sechs Wochenenden geht, ist ebenfalls gemischt. Allen Dozenten ist gemeinsam, dass sie selbst die Fortbildung zur integrativen Kinderwunsch-Behandlung absolviert haben und praktizieren. Dieser Ansatz wurde vor einigen Jahren erstmals von der Deutschen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin (DGRM) angeboten. Das Curriculum entwarf Kiki Sulistyo, Facharzt für Allgemeinmedizin und Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe. Er ist Lehrbeauftragter für Chinesische Medizin und Chinesische Phytotherapie an der Universität Witten-Herdecke.
Warum Sulistyo, 70, sich seit vielen Jahren für die integrative Ausbildung engagiert, wird schnell klar, als er einige Beispiele aus der Praxis erzählt. Wenn Heilpraktiker sich mit der westlichen Differenzialdiagnose des unerfüllten Kinderwunsches nicht auskennen, kann etwa Folgendes passieren: Bei einer Patientin sind die Eileiter nicht durchgängig. In einem solchen Fall können Spermien die Eizelle nicht erreichen und das Paar benötigt Hilfe durch künstliche Befruchtung. Dann verliert ein Paar, das sich nur auf Chinesische Medizin verlässt, wertvolle Zeit. Und das beschädigt das Ansehen der Chinesischen Medizin, weil sie nicht kunstgerecht angewendet wird. Sulistyo macht so etwas wütend und traurig zugleich.
Integrative Kinderwunsch-Behandlung
Was er unter einem integrativen Ansatz versteht, erläutert Sulistyo am Beispiel des „habituellen Aborts“. Diese Diagnose wird gestellt, wenn eine Frau drei oder mehr Fehlgeburten vor dem Ablauf der 12. SSW hat. Eine mögliche Differenzial-Diagnose der westlichen Medizin ist das „Antiphospholipid-Syndrom“, das man effektiv durch die Gabe von Heparin behandeln kann. Zusätzlich könnte die TCM-Diagnose beispielsweise „Hitze im Uterus“ lauten. Dann würde die Patientin zusätzlich zu Heparin-Spritzen auch Kräuter erhalten, die Bluthitze kühlen.
An diesen Beispielen wird deutlich, was „integrative Medizin“ im Unterschied zu komplementären Ansätzen meint. Dabei würde man westliche Medizin und TCM je nach Bedürfnis des Patienten kombinieren. Beim integrativen Ansatz arbeiten Therapeuten für westliche Medizin und TCM arbeiten. In der Konsequenz müssen Heilpraktiker und Ärzte ausgebildet werden, die sich in beiden Systemen auskennen. Damit sie deren Stärken und auch Grenzen kennen und sie zum Nutzen ihrer Patienten kombinieren können.
„Es geht darum, dass wir die Probleme bei unerfülltem Kinderwunsch integrativ erfassen, dann haben wir bessere Chancen“, erklärt Kiki Sulistyo.
In der Tradition von Kiki Sulistyo
Ich bin Christophe Mohr und Nora Giese sehr dankbar, dass sie diese Ausbildung zur integrativen Kinderwunsch-Behandlung als Nachfolger von Kiki Sulistyo fortführen. Nora und Christophe sind ebenfalls Lehrbeauftragte für Chinesische Medizin in Witten-Herdecke. Christophe leitet außerdem die Expertenrunde „Integrative TCM-Therapie in der Kinderwunsch-Behandlung“ auf dem TCM-Kongress in Rothenburg. Ich bin zuversichtlich: Der integrative Ansatz ist die Medizin der Zukunft. In meiner Praxis setze ich ihn in der TCM-Kinderwunsch-Behandlung bereits ein.
P.S. Kiki Sulistyo legt Wert darauf, dass die TCM ebenfalls eine Schulmedizin, ja sogar eine universitäre Medizin ist. Nur beruht sie auf anderen Paradigmen und theoretischen Prinzipien als die naturwissenschaftlich basierte Medizin. Sie ist demnach nicht als „alternatives Heilverfahren“ im Sinne der WHO einzustufen. Sulistyo hat sogar Thesen zu einer Evidenz Basierten Chinesischen Medizin aufgestellt. Aber das ist ein anderes Thema.
Nachtrag im April 2020:
Als ich die erste Fassung dieses Beitrags im August 2017 schrieb, war ich skeptisch, dass der integrative Ansatz funktionnieren würde. Für Heilpraktiker ist es sehr schwer, durch Hospitation klinische Erfahrung zu machen. Das liegt u.a. daran, dass vom Gesetzgeber eine strenge Trennung zwischen Heilpraktikern und Ärzten vorgeschrieben wird. Als ich mich darüber bei Kiki Sulistyo beklagte, hat er mir die Hospitation in seiner Praxis in Dormagen ermöglicht. So konnte ich aus erster Hand lernen, wie integrative Kinderwunsch-Behandlung in der Praxis aussieht. Inzwischen hat Sulistyo sich zur Ruhe gesetzt. Aber sobald die Kontakt- und Reisebeschränkungen durch das Corona-Virus aufgehoben sind, mache ich wieder eine Fortbildung bei ihm.
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