So wird Ärger nicht zu Stress

Dass die tiefere Ursache für unsere Gefühle nicht im Außen liegt, sondern in uns selbst, kann sehr entscheidend sein, um Stress zu bewältigen und innerlich freier zu werden von äußeren Umständen.

Ich habe diese Annahme zuerst im Zusammenhang mit der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg kennengelernt (siehe Beitrag: „Wir sind für unsere Gefühle selbst verantwortlich„). Jetzt habe ich sie auch bei dem niederländischen Psychologen und Theologen Henry Nouwen gefunden – und zwar in einem ganz anderen Kontext.

Im Alter von 42 Jahren wagte Nouwen einen Ausstieg aus seinem Leben als Dozent für Mystik, Spiritualität und Pastoralpsychologie an der Yale University: Er zog sich für sieben Monate in das Trapistenkloster Genessee im Staat New York zurück, um dort im Schweigen mit den Mönchen zu leben. Er hat die Tagebuchnotizen aus dieser Zeit in einem Buch veröffentlicht (Titel: Ich hörte auf die Stille), in dem er über das Leben in der Abtei schreibt, seine Einsichten und manchmal auch bittere Selbsterkenntnis. Am meisten reflektiert Henry Nouwen zu Anfang, wie schwer es ihm fällt, in der Bäckerei für ihn langweilige Arbeit zu verrichten oder draußen Steine für den Bau der neuen Kirche zu schleppen. Liest er dagegen ein geistig anregendes Buch, ist er zufrieden und ausgeglichen.

Nun könnte man sagen, dass es doch viel besser ist, einen Intellektuellen mit geistiger Arbeit zu betrauen und einen handwerklich Begabten manuelle Arbeiten verrichten zu lassen. Und dass sich in jedem Widerstand regen würde, wenn er nicht seinen Fähigkeiten entsprechend eingesetzt wird. Im Kloster wird die Arbeit aber auch als eine Art Gottesdienst angesehen, und gerade die eintönigen Arbeiten eignen sich besonders, um dabei innerlich zu beten. Anders als im weltlichen Leben geht es nicht darum, aus der Arbeit selbst eine Befriedigung zu ziehen.

Nouwen weiß das sehr wohl aus seiner intellektuellen Beschäftigung mit der Mystik , aber innerlich spürt er, wie weit er davon entfernt ist, so zu leben. Er ist ins Kloster gekommen, weil er das Gebet an die erste Stelle setzen wollte. Und merkt nun, dass sich seine Abneigungen und Vorlieben für bestimmte Arbeiten als „falsche Anhänglichkeit“ dazwischen schieben und er noch lange nicht die erwünschte Losgelöstheit von seinen eigenen Wünschen erreicht hat.

Am Ende des ersten Monats im Kloster hat Nouwen in Bezug auf seinen Ärger und Groll gegenüber körperlicher Arbeit eine wichtige Einsicht:

„Das Leben in einem Kloster wie diesem hier hilft mir einzusehen, dass die Quelle des Grolls wirklich in mir selbst ist. In anderen Lebensverhältnissen gibt es oft genug „gute Gründe“, sich zu ärgern oder zu meinen, die anderen seien gefühllos oder schroff. Unter solchen Umständen findet mein Geist schnell Anknüpfungspunkte für seine Feindseligkeit. Aber hier könnte man nicht netter, umgänglicher, rücksichtsvoller sein. Die Mönche sind wirklich sehr liebevoll und mitfühlend. Da bleibt wenig Spielraum für Projektionen – in Wirklichkeit überhaupt keiner. Nicht er oder sie sind Schuld, sondern ganz einfach ich. Ich bin selbst die Quelle für meinen Ärger, und keiner sonst.“ (Henry Nouwen: Ich hörte auf die Stille)

Da erkenne ich mich sofort wieder. Ich habe zwar nicht beschlossen, ein rein geistliches Leben zu führen, aber ich glaube schon, dass mein Ärger auf bestimmte Situationen und Menschen tiefere Gründe haben könnte, und die äußeren Umstände nur der Auslöser sind.

Nouwen beschließt, die tiefere Wurzel seines Ärgers zu ergründen. Ich weiß noch nicht, wie er das macht und ob es ihm gelingen wird, aber für mich ist das ein typischer Fall für Mitgefühl mit mir selbst. Laut Christopher Germer, von dem ich letzte Woche schrieb (Selbstmitgefühl für schwierige Zeiten), versucht man mit dieser Praxis nicht direkt, schwierige Gefühle loszuwerden. Aber indem man ihnen gegenüber eine gelassene, vielleicht sogar fürsorgliche Haltung einnimmt, verschwinden sie von selbst.

Das erinnert mich an ein Gedicht von Rumi:

„Das Gasthaus“
Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.
Freude, Depression und Niedertracht –
auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit
kommt als unverhoffter Besucher.
Begrüße und bewirte sie alle!
Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist,
die gewaltsam Dein Haus
seiner Möbel entledigt,
selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll.
Vielleicht bereitet er dich vor
auf ganz neue Freuden.
Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit –
begegne ihnen lachend an der Tür
und lade sie zu Dir ein.
Sei dankbar für jeden, der kommt,
denn alle sind zu Deiner Führung
geschickt worden aus einer anderen Welt.