Frühjahrsmüdigkeit – nur nichts erzwingen
Es hat lange gedauert in diesem Jahr, aber jetzt ist der Frühling nicht mehr aufzuhalten. Wenn die Frühjahrsmüdigkeit uns daran hindert ebenfalls durchzustarten, hilft vor allen eines: sich locker zu machen.
Frühjahrsmüdigkeit beruht aus der Sicht der chinesischen Medizin darauf, dass wir uns im Winter nicht genug ausgeruht haben. Manchem steckt auch der letzte Infekt oder die Ausläufer der Grippe noch in den Knochen. Wir spüren den Aufbruch in der Natur, können uns selbst aber nicht aufraffen. Wir sind müde, niedergeschlagen oder neigen zu Reizbarkeit und Kopfschmerzen.
Umherwandeln mit gelöstem Haar
In dem Klassiker des Gelben Kaisers zur inneren Medizin widmet sich das zweite Kapitel der Kunst, in Einklang mit den Jahreszeiten zu leben. In der Übersetzung von Wolfgang A. Schmidt heißt es:
Nach dem Schlaf in der Nacht sollte man früh aufstehen, im Hof umherwandeln, das Haar lockern und sich körperlich nur gemächlich bewegen.
Denkt man an die straff zurückgekämmten und hoch gesteckten Haare der adeligen Chinesen auf alten Gemälden, ist klar, wie befreiend sie es fanden, mit gelöstem Haar die frische Morgenluft zu genießen. Gleichzeitig beugt diese Lockerung auch den typischen Problemen der Wandlungsphase Holz vor: gereizter Stimmung, Zornesausbrüchen und Kopfschmerzen. Denn im Frühling, der zum Holz gehört, drängt die Energie unaufhaltsam nach oben und außen. Sie einzuzwängen ist ähnlich wie das Ventil in einem Dampfdruckkochtopf zu verschließen, während man die Temperatur weiter steigert. Deshalb heißt es auch weiter:
„Zu dieser Zeit sollte dem Streben des Körpers nach Leben Rechnung getragen werden; man sollte ihm geben anstatt von ihm zu nehmen, man sollte ihn belohnen anstatt ihn zu betrafen.“
Diese Passage ist geradezu eine Aufforderung, die Disziplin zu lockern, früher von der Arbeit nach Hause zu gehen, Sonne und frische Luft zu genießen. Im Frühling gibt man dem Pferd mehr Zügel und lässt es draußen rennen, anstatt ihm in der Halle komplizierte Dressuraufgaben abzuverlangen. Frühjahrsmüdigkeit muss nicht unbedingt auf Erschöpfung beruhen, sondern sie kann auch Ausdruck eines gewissen Überdrusses sein, den man durchbrechen kann, wenn man die Regeln lockert.
Bewegung baut Spannung ab
Den Körper im Frühjahr mehr zu bewegen, ist eine gute Empfehlung: Bänder und Sehnen gehören ebenfalls zur Wandlungsphase Holz. Sie zu dehnen ist wunderbar, um flexibel zu bleiben und die aufbrechende Energie des Frühlings im eigenen Körper zu kanalisieren (sprich: Spannungen abzubauen). Aber mir scheint ganz wichtig, dass es bei all dem nicht um Leistung oder Selbstoptimierung geht (das macht nämlich gleich wieder müde), sondern die Freude im Vordergrund steht.
Sich aus puren Übermut zu bewegen wie ein junges Fohlen ist ebenso berechtigt wie schläfrig auf der Weide zu liegen und sich die Sonne auf den Pelz scheinen zu lassen. Wenn wir mit wachen Sinnen durch die Natur gehen, merken wir mit ein wenig Übung bald, was wir brauchen, wonach wir uns sehnen oder was uns einengt.
Qi Gong gegen Frühjahrsmüdigkeit
Wer während der Woche nicht so viel Zeit hat, in der Natur zu sein, kann auch am Morgen 10 – 15 Minuten Qi Gong einplanen. Am besten besucht man zuerst einen Kurs bei einem erfahrenen Lehrer. Denn Qi Gong wirkt nicht nur auf der körperlichen Ebene. Es ist auch emotional ausgleichend. Manchmal können sich auch unterdrückte Emotionen lösen. Besonders dann, wenn man Vertrauen hat, dass der Lehrer oder die Gruppe, mit der man übt, das auffangen kann.
Ein erfahrener Lehrer wird im Frühjahr Übungen auswählen, die einerseits Bänder und Sehnen dehnen. Andererseits wird er auch Übungen zeigen, die die Leber ansprechen. In der traditionellen westlichen Medizin ist das Frühjahr eine gute Zeit, die Leber zu reinigen oder zu entgiften. Das macht man am besten mit einer Frühjahrskur. Die TCM betont dagegen eher den Aspekt, dass die Leber-Energie bei Stress stagniert. Außerdem hat sie die Aufgabe, das Blut zu speichern. Beide Funktionen können durch Qi Gong unterstützt werden.
Die Natur als Lehrmeisterin
Franz Jalics, ein einflussreicher christlicher Meditationslehrer, bezeichnet die Natur als große Lehrmeisterin. In seinem Buch „Kontemplative Exerzitien“ empfiehlt er Spaziergänge, bei denen man sich ganz der Wahrnehmung überlässt, als Vorstufe zur Meditation. Es ist interessant, wie stark die Natur dabei zu einem Spiegel der Seele werden kann. So berichtet eine Frau, dass sie vom Anblick eines verdorrten Baums ganz traurig wird, weil sie sich ebenso abgestorben und leblos fühlt. Aber sie erlaubt der Traurigkeit da zu sein und allmählich klingt sie ab und die Frau fühlt sich ruhiger. Ein Mann hingegen hörte intensiv den Vögeln zu und bemerkte erstmals, wie unzählig viele Vogellaute es gibt. Dadurch fühlte er sich erfrischt und froh.
Ich glaube, so überwinden wir die Frühjahrsmüdigkeit am besten und kommen in Übereinstimmung mit der Energie des Frühlings: indem wir wahrnehmen und körperlich und gefühlsmäßig offen sind. Dann bekommen wir ganz ohne Anstrengung eine Menge geschenkt.
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